Jahrestag ForuM-Studie

ZUHÖREN, AUSHALTEN, HANDELN

Im Dienst der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche

Das Haus hüllt sich noch in Stille. Es ist kurz vor Sonnenaufgang. Alle im Haus schlafen noch. Selbst der Hund hat sich nicht, wie sonst üblich, wenn ich aufstehe, aus seinem Sitzsack gewühlt, sondern ist mit einem unverständlichen, ja fast empörten Blick liegen geblieben. 

Ich sitze am Küchentisch, neben mir ein dampfender Kaffee, vor mir die Zeitung. Es ist Sonntag. Und ich habe einen langen und anstrengenden Tag vor mir. Heute treffe ich Menschen, denen unglaubliches und unendliches Leid angetan wurde. Ein Leid, das bis heute wirkt. Ich treffe Menschen, die von sexualisierter Gewalt in unserer Kirche betroffen sind. Es ist meine Aufgabe bei der Evangelischen Kirche der Pfalz. Ich bin für den Bereich „Schutz vor sexualisierter Gewalt“ zuständig. Das beinhaltet Prävention, aber auch Intervention und auch die Aufarbeitung. Aber mit dem Job allein ist es nicht getan. Es ist mir eine Herzensangelegenheit! 

Dieses Treffen ist das zweite Treffen dieser Art, ein Forum für Betroffene. Die Evangelische Kirche der Pfalz und die Evangelische Kirche Baden haben sich dafür zusammengetan. Und die Emotionen der Menschen, die mich erwarten, werden wieder heftig sein. Ich bin diesmal ein bisschen vorbereitet. Beim ersten Forum für Betroffene trafen mich die Geschichten und Gefühle der Menschen unverhofft. Ich bin es gewohnt, mit einzelnen Menschen zu kommunizieren, einzelne Geschichten zu hören. Aber viele Menschen gleichzeitig zu treffen, ist eine ganz andere Hausnummer. Ich bin zwar vorbereitet, weiß aber auch gleichzeitig, was auf mich zukommt. Das eine wiegt das andere nicht auf. So viel Schmerz, Leid, Angst, Wut, Trauer, Enttäuschung, Zorn – alles, geballt, potenziert. 

Ich weiß, und alle Anwesenden auch, dass ich keine Täterin bin. Aber ich repräsentiere die Organisation, in der diesen Menschen so viel Leid angetan wurde. In einem Raum, einem Umfeld, der eigentlich Schutz und Geborgenheit bieten sollte. In dem Vertrauen und Liebe Platz finden sollten. Und wo das Gegenteil erfahren wurde. Das muss frau erst mal abkönnen. 

Abschalten hilft nicht. „In ein Ohr rein und aus dem anderen wieder raus“ wird den Menschen und ihren Bedürfnissen nicht gerecht. Sie wollen und müssen gehört werden. Das sind wir ihnen schuldig. Wir sind es ihnen schuldig, jede einzelne Geschichte zu hören, zu erfahren und zu hören, wo Kirche versagt hat. Wo wir als Institution schuldig geworden sind. Weil wir nicht hingesehen haben. Weil wir weggeschaut haben. Weil wir nicht gehandelt haben. Was war, können wir nicht rückgängig machen. Aber wir können es anerkennen, zuhören, erfahren, aushalten. 

Auch können und müssen wir dafür Sorge tragen und alles dafür zu tun, dass sich solche Geschichten nicht wiederholen können. Es hat sich eben nicht woanders abgespielt, sondern mitten unter uns. 

Atmen hilft beim Aushalten. So übe ich mich also im Atmen bei meinem letzten Schluck Kaffee an meinem Küchentisch. Nehme meine Sachen und mache mich auf den Weg. Ich habe mich gewappnet. Und ich gehe und stelle mich, werde zuhören und aushalten. Und ich werde atmen. 
Ivonne Achtermann


Sollten Sie selbst betroffen sein von sexualisierter Gewalt, können Sie sich hier Hilfe holen: 
Ansprechperson für Fälle sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche der Pfalz und ihrer Diakonie ist Ivonne Achtermann (Telefon: 06232-667-153, E-Mail: ivonne.achtermann@evkirchepfalz.de). 

Zentrale Anlaufstelle Help: Unabhängige Information für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evan-gelischen Kirche und Diakonie. Tel.: 0800 5040 112 - kostenlos und anonym